Presse:2006 10: Kölner Illustrierte über Sigrids Risiken
Findige Theaterbesucher, die an bestimmten Abenden die Artztpraxis von Frau Dr. Schneiders aufsuchen, treffen dort im Wartezimmer auf eine außergewöhnlich redselige Patientin. Sigrid erzählt nicht nur bereitwillig von ihren eigenen Wehwehchen, sondern vor allem von denen ihrer Mutter aus einem Monolog besteht "Sigrids Nebenwirkungen" [Gemeint ist hier Sigrids Risiken (K.F.)], ein Teilstück des Theaterprojekts "Risiken und Nebenwirkungen" von Autor Klaus Fehling, das sich mit einer interessanten Thematik beschäftigt.
Es geht um die Folgeschäden, unter denen diejenige Generation leidet, die ihre Kindheit zwischen Trümmern, in Luftschutzkellern oder auf der Flucht verbrachten und in eine Zeit hineinwuchsen, in der Seelische Krankheiten tabu waren und Kriegstraumata ignoriert wurden. Heute bevölkert eben diese Generation die Arztpraxen. Und so erzählt Sigrid, dass ihre Mutter Schlaftabletten braucht, seit Jahren, täglich. "Was auch immer passiert, Anni rechnet mit dem Schlimmsten", schildert Sigrid. Der Zuschauer ahnt, dass sie damit einen Seelenzustand beschreibt, in dem Menschen, die schreckliche Erlebnisse nie verarbeiten konnten, sich typischerweise befinden.
Wie es um das Seelenleben der Kinder einer verängstigten Generation bestellt ist, offenbart Sigrid, als sie in der Arztpraxis zusammenklappt. "So schnell bekommt man keinen Krebs", muss sie sich selbst beruhigen. Den auch ihr hat Mutter Anni vor allem eines mit auf den Lebensweg gegeben: Angst. Da haben auch radikale Abgrenzungs- und Abnabelungsversuche nichts geholfen. Wie viele ihrer Altersgenossen sympathisierte Sigrid mit einem anderen politischen Extrem und suchte ihre Helden in der linksradikalen Szene.
Und eben das ist der perfekte Angelhaken für manche humorvolle Betrachtungen, mit denen der Autor dem sonst thematisch recht schwergewichtigen Stück zum Gleichgewicht verhilft. Besonders in den Passagen, die sie dem Publikum mit einem Augenzwinkern unterjubeln kann, brilliert die Schauspielerin Heidrun Grote vom Ensemble c.t. 201. Wunderschöne Piano- und Bassklarinettenklänge runden die originelle Inszenierung des sensiblen Stückes ab, das sich mit viel Fingerspitzengefühl einer gewissen Leichtigkeit bedient, um den Zuschauer mit den Kriegstraumata zu konfrontieren, die möglicherweise die seiner Eltern sind.
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